Wenn man den wütenden Mob von Clausnitz sieht, könnte man an einen Rückfall ins Mittelalter oder an die Existenz des Bösen glauben. Ich glaube aber, dass es vielmehr um Angst geht. Diese Menschen haben Angst und kanalisieren sie in Wut und Hass auf noch Schwächere. Dieser Radikalisierungs-Prozess wird in meinen Augen unterstützt durch einen einseitig stattfindenden öffentlichen Diskurs. Doch zunächst einmal die Frage: Woher kommt die Angst dieser Menschen?

Ich glaube, dass sie das Gefühl haben, vom Staat vernachlässigt, ja vergessen worden zu sein. Sie haben den Niedergang ihrer Dörfer miterlebt: Erst ziehen die jungen Leute massenhaft weg, dann wird der Bahnanschluss gekappt, der Bahnhof verwahrlost, dann schließen der Bäcker, der Fleischer und der Minisupermarkt, der Bus fährt nur noch zweimal am Tag für die übriggebliebenen Schulkinder, die Arbeitslosenquote steigt, dann geht der letzte Arzt in Rente… Die Region stirbt. Das geschieht nicht nur im Osten, aber dort hat man die Wende als zusätzlichen radikalen Lebenseinschnitt, der Gewinner und Verlierer erzeugt hat.

Und jetzt kommen die Flüchtlinge. Im Internet und insbesondere bei Facebook kursieren Geschichten, was sie nicht alles vom Staat bekommen und worauf sie nicht alles Anspruch haben. Und das wirkt. Außerdem sehen sie es ja in ihren eigenen Dörfern: Der Staat kümmert sich um die Flüchtlinge, gibt ihnen kostenlos (!) eine Wohnung und sogar Geld zum Leben. Sie fragen sich: „Wer macht das denn für mich?“ oder „Wenn man denen das alles gibt, was bleibt dann noch für mich übrig?“ Dass dies Notmaßnahmen sind, um keine menschenunwürdigen Zeltstädte zu erschaffen, dass Flüchtlinge lieber arbeiten würden, als Geld und eine Wohnung vom Staat zugewiesen zu bekommen, wissen sie nicht. Das Bild vom Sozialschmarotzer wurde in den letzten Jahrzehnten zu gut anhand der faulen Hartz-4-Empfänger und der Griechen in den deutschen Medien etabliert (vgl. hier).

Diese ängstlichen Menschen bekommen die Wirklichkeit nicht mit, in der die Flüchtlinge in Deutschland leben. Sie wissen nicht, dass Flüchtlinge in diesem Land immer menschenunwürdiger behandelt werden, dass hart erkämpfte grundlegende Menschenrechte und daraus entstehende Ansprüche in zwei sogenannten Asyl-Paketen gekappt wurden – und zwar eigentlich für sie, um ihren Ängsten entgegenzuwirken. Das Dilemma dieser Asylpakete ist, dass die Härte der neuen Regelungen öffentlich nicht eingestanden und klar benannt werden kann, weil dann auch ihre Menschenunwürdigkeit deutlich werden würde. Man stelle sich die Schlagzeile vor: „Regierung beschließt: Noch weniger Rechte und noch willkürlichere Behandlung für Flüchtlinge!“ Die Wirkung, die diese Asylpakete eigentlich bei den Ängstlichen erzielen sollten, kann daher nicht erreicht werden. Nur die Flüchtlinge und Helfer werden die Auswirkungen im streng reglementierten Flüchtlingsalltag erleben. Auflösen wird sich die Angst der Menschen dadurch also nicht.

Der öffentliche Diskurs über Flüchtlinge hat aber auch weiterhin eine starke Schieflage. Nachdem es lange Zeit eine fast erzwungen positive Berichterstattung über Flüchtlinge gab, stellten die Ereignisse der Silvesternacht in Köln für die Medien eine Art Katharsis dar: Alles, was vorher unterdrückt worden war, floß nun ungehemmt und aggressiv in die Berichterstattung ein. Doch dieses Fenster der rassistischen Schreckensszenarien hat sich (glücklicherweise) wieder geschlossen. Der mediale Diskurs ist wieder latent positiv – orientiert am „Wir schaffen das!“ der Kanzlerin. Das führt jedoch dazu, dass es keine realistische Diskussion über die Flüchtlingskrise geben kann, weil die wichtigste Frage weiterhin unbeantwortet bleibt: „Wie schaffen wir das?“ Diese Leerstelle lähmt die gesamte Diskussion: Sie schwankt zwischen dem abstrakten, inhaltlich nicht ausgefüllten Glauben an das „Wir schaffen das!“ und den immer lauter werdenden Forderungen nach einer Begrenzung der Flüchtlingszahlen, die den Zweifel eines „Wir schaffen das nicht!“ unausgesprochen enthalten. Die eigentlich notwendige inhaltliche Debatte wird von den Medien zu einem Kampf zwischen zwei Lagern stilisiert: „Alle gegen Merkel. Wann knickt sie ein?“

Während also die Medien mit diesem skurrilen Schaukampf beschäftigt sind und damit den Diskurs in seiner möglichen Breite gar nicht abbilden können, findet der ausgeblendete Teil auf Facebook statt. Dort treffen soziale Schichten aufeinander, die in der Wirklichkeit nie aufeinander treffen würden. Und alle wundern sich, wie radikal sich die Menschen dort äußern. Zeitungsredakteure sind irritiert, wenn ihre „Freunde“ bei Facebook plötzlich gegen Flüchtlinge hetzen und schreiben öffentliche Anleitungen, wie man damit umgeht. Sie sind ebenso irritiert, wenn dies plötzlich in der Familie auftritt. Dabei weist dies nur auf die Leerstelle der öffentlichen Diskussion und die Schieflage des medialen Diskurses hin. Ich rede hier nicht von strafrechtlich relevanten Äußerungen wie Morddrohungen oder Hetzkampagnen, sondern von kritischen Äußerungen jenseits des „Wir schaffen das“. Diese Äußerungen werden als Rechts oder „AfD-Quatsch“ abgetan, den es zu widerlegen gilt. Eine solche Meinung lässt sich aber nicht mit Fakten widerlegen, weil es eben nicht nur eine Fehlinformation ist, sondern weil sie auf der oben beschriebenen Angst aufsetzt. Und solange im öffentlichen Diskurs die Frage „Wie schaffen wir das?“ nicht beantwortet wird, wird diese Angst bestehen bleiben.

Stattdessen sollen aber lieber die Kommentare gelöscht werden. Der Druck auf Facebook ist enorm. Aber ist es wirklich besser, die Menschen lernen, dass man bestimmte Dinge einfach nicht mehr öffentlich sagen kann? Die Meinungen und Ängste werden sich dadurch ja nicht ändern – sie werden vielmehr zu Handlungen führen, die dann die Öffentlichkeit böse überraschen (siehe Clausnitz, siehe Bautzen). Der unterirdische, nicht-öffentliche Vulkan wird weiter brodeln und es wird immer wieder unerwartete Eruptionen des Hasses geben.

Doch wie ließe sich diese Situation auflösen? Claus von Wagner hat in „Der Anstalt“ einen möglichen Weg aufgezeigt (am Ende des Videos). Die Regierung bräuchte eine Vision. Angela Merkel müsste so etwas sagen wie: „Liebe Bevölkerung, niemandem wird es schlechter gehen, weil wir die Flüchtlinge aufgenommen haben. Wir werden stattdessen Geld in die Hand nehmen und in unsere Infrastruktur und unsere Bildung investieren. Alle werden davon profitieren!“ Aber das kann sie nicht sagen. Zum einen weil es verpönt ist, wenn der Staat (der elende Verschwender!) investiert und sich dafür verschuldet (Schulden das Teufelszeug! Dagegen hilft nur die Schuldenbremse!). Zum anderen weil sie dann zeigen würde, dass für die Flüchtlinge extra Geld ausgegeben wird, was man vorher nicht für die Aufrechterhaltung von (fast schon sprichwörtlichen) kommunalen Schwimmbädern und Bibliotheken hatte (allerdings für die systemrelevanten Banken). Sie müsste also für die Beantwortung der Frage „Wie schaffen wir das?“ ihre bisherige Politik in Frage stellen und ändern. Das kann sie nicht.

Angela Merkel hat sich somit in eine Sackgasse manövriert – und damit auch die Medien und den öffentlichen Diskurs. Aber solange dieses Visions-Vakuum besteht, werden die Horrorszenarien der AfD und der Rechten blühen und gedeihen – ganz egal, ob in oder jenseits der Öffentlichkeit.

(Bild: Screenshot Youtube)