Manchmal offenbart sich das Gefühl einer ganzen Woche schon im Zeitraffer einer ganz kleinen Situation. Es zeigt sich in allen seinen Facetten gedrängt in einer halben Stunde.
Vor nicht allzu langer Zeit war ich mit einem sehr guten Freund abends in einer Kneipe. Wir redeten sehr intensiv über die Dinge, die uns gerade beschäftigten. So verbrachten wir mehrere schöne Stunden. Als er ein neues Thema ansprach, von dem ich ahnte, dass es ihn sehr beschäftigte und ihm viel bedeutete, beschloss ich, das Bier noch einmal wegzubringen, um mich ganz konzentrieren zu können.
Als ich wiederkam, war sein Platz leer. Er stand an der Theke und unterhielt sich mit einem Fuzzi an der Bar. Ich dachte mir nichts dabei und setzte mich wieder an unseren Tisch. So könnte ich noch einmal ein paar gesagte Sachen setzen lassen, dachte ich. Aber diese selbstbezogene Ruhe hielt nicht lange vor. Ich begann zu warten. Er drehte sich nicht um und stand mit dem Rücken zu mir. Es war, als hätte er unser Gespräch einfach gegen das an der Bar ausgetauscht. Verschiedene Dinge schossen mir durch den Kopf: Ein Ultimatum setzte ich ihm als erstes, eine Viertelstunde länger würde ich das absolute Vergessen nicht überstehen. Ich fragte mich, ob er das absichtlich machte, ob ich etwas falsches gesagt hatte. Zugleich dachte ich mir beschwichtigend, dass er sich wahrscheinlich einfach ablenken ließ, ohne die verstreichende Zeit zu bemerken. Andererseits machte mich das auch traurig, weil es unser Gespräch so abwertete, so belanglos machte.
Ein Blick wäre das einzige gewesen, was die aufsteigende Wut und Traurigkeit hätte stoppen können. Ein Blick, der sagt: “Ich komme gleich, aber der Spinner an der Bar labert mich leider die ganze Zeit zu.” Das kam nicht. Mein Ultimatum verstrich und ich überlegte, einfach so zu gehen – aus kindischer Rachsucht heraus. Aber dann entschied ich mich für die etwas erwachsenere Variante, zog mich an und ging zu ihm und sagte ihm enttäuscht und niedergeschlagen wie ich war, dass ich nun ginge. Er fiel aus allen Wolken und war sehr verwirrt. Aber er kam überstürzt mit und entschuldigte sich tausendfach. Das Gespräch wäre so interessant gewesen, die Zeit sei ohne Bewusstsein dahin geflossen. Alles was ich mir schon gedacht hatte. Wenn Schuld so offensichtlich verteilt ist, kann ich nie lange Gläubiger bleiben. Wir vergaßen die Sache recht schnell und unterhielten uns noch länger.
In genau dergleichen Situation befinde ich mich nun seit anderthalb Wochen. Alles, was ich dort fühlte, alle Gedanken, alle Befürchtungen, alle Ultimaten sind genauso gekommen.
Sie sagte mir wiederum nach einem traumhaften Abend, sie wolle sich melden. Das tat sie nur einmal sporadisch, um dann gleich wieder aufzulegen, als sie Besuch von einer Ablenkung bekam. Seitdem steht sie an der unsichtbaren Bar und lebte ihr sonstiges Leben – wahrscheinlich auch ohne, dass sie merkt, wie die Zeit und mit ihr die Ultimaten vergehen. Nun habe ich auch meinen Mantel für die einsame Kälte draußen angezogen und ihr geschrieben – sagen konnte ich es nicht – , dass ich nun gehe. Auf eine ähnlich glimpfliche Auflösung kann ich leider nicht mehr hoffen, da ich sie weder sehen noch die Ernsthaftigkeit ihrer Ablenkung einschätzen kann. Soweit reicht die halbstündige Situations-Essenz nicht. Die Zukunft bleibt ihr verwehrt.
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