Oh je, wie kann man nur so wahre Gedanken so zerpflücken und missverstehen? Wozu gibt es Germanisten? Dürfen diese Menschen unsere Kinder lehren?
Kurzum, es war ein Seminar zu einem Essay von Schopenhauer. Schopenhauer formulierte darin in einem wunderbaren Stil, die Idee, dass man nicht selbst denken lerne, wenn man Bücher konsumiere. Man hinkt zumeist Gedanken des Autors hinterher, und verlernt im Nachhinken auch noch das eigene Gehen oder die Schönheit und Bedeutung des eigenen Gehens. An diesem für mich sehr nachvollziehbaren Gedanken erzürnte sich auch die Germanistenbrut (möglicherweise aus Selbsterhaltungstrieb). Wie könne man so etwas behaupten, wie solle man denn jemals weiterkommen im Denken, wenn man nicht liest, was andere vor einem gedacht haben? Das sagte selbst der Dozent. Was für ein Trugschluss. Es bringt nichts Kant oder Schiller oder Rilke zu lesen, wenn man nicht vorher selbst gedacht hat. Man kann niemals durch Fremdlesen eine höhere Stufe erklimmen, nur durch In-sich-selbst-Lesen steigt man. Und jeder Mensch fängt bei Null an, egal ob die Literatur-oder Philosophiegeschichte in sich einsaugt und hofft deshalb luftballongleich zu steigen. Eher hindert dieses Wissen oder verstellt den Blick auf die eigenen Erfahrungen und Gedanken. Als ich 18 oder 19 war hatte jeder Siddharta von Hesse gelesen, ich auch. Aber was hat es mir gebracht, nur langsam schaffe ich es einige Gedanken nachzuerfahren. Ein damaliger Freund von mir sagte mir, dass er die Bücher jeweils in dem Alter lesen werde, in dem auch der Autor sich befand. Welch weise Vorraussicht. Immerhin kann das Lesen eine Ahnung vom Erfahrbaren geben, wie wenn man auf einer Schiffsreise eine ferne Insel schemenhaft am Horizont erscheinen sieht. Nur dass der Kurs niemals genau dorthin gehen wird, irgendwann später wird man die Insel wiedererkennen und wissen, dass man sie bereits von Ferne sah.
Das ist natürlich nur meine – wie es scheint – vereinzelte Meinung. Wie wäre denn eine solche Diskussion über den Text überhaupt möglich, wenn man nur die fremden Gedanken wiedergibt, fragt eine. Den Inhalt des Textes anerkennend, sagt ein anderer, sei der Stil für diesen Anlass ungeschickt. Hat Schopenhauer nicht auch nur seine eigene Wut damit kompensiert? Diese und andere weltbewegenden Fragen veranlassten micht stark an mir und meiner Wahrnehmung zu zweifeln. Möglicherweise bin ich nicht kritisch genug, vielleicht lasse ich mich zu leicht überzeugen von solch affirmativen Texten. Ich hatte auf einer emotionalen Ebene sofort gespürt, dass Schopenhauer recht habe. Nach und nach im Zuge der Diskussion machte ich leichte Konzessionen, aber die wichtigste Aussage blieb bestehen: Bücher geben die Gedanken anderer wieder. Vielleicht war es auch in etwas abgewandelter Form das, was Siddharta zu dem Erleuchteten Gautama sagte. Er meinte, dass er zwar sehe, das dieser seinen Weg zur Erleuchtung gefunden habe, aber er spüre auch, dass dies nicht sein Weg sein könne und auch eigentlich keines anderen Weg. Es ist vielleicht wie bei Kafkas Geschichte “Vor dem Gesetz”, dass es für jeden nur einen einzigen Zugang zu diesem Ziel gibt und dieser sich mit dem Tode schließt. Allerdings stehen, in der Kombination der Bilder, vor diesem Eingang die Lehrmeister und stapeln Bücher, sie bewachen den Eingang und verschließen ihn mit ihren Lehren. Und häufig ist man auch recht froh darüber, dass sie so adrett davor stehen und einem zusäuseln: “Hier bleib nur stehen und lies.”
Und die Germanisten haben dies verinnerlicht und werden es auch weitergeben – sie werden ja Lehrer. In meinem Gefühl der Andersartigkeit entspann sich dabei auch eine latente Arroganz und ich dachte, dass die meisten in diesem Seminar wohl noch nie die Freude eines eigenen Gedankens erfahren haben. Und wie immer kam dann der Zweifel und nagte an der Besonderheit meiner Gedanken. Nun denn, ich werde wohl weiterhin schweigen und schreiben müssen.