Ich, mein grauer Herr

Zeitnot ist unsere Krankheit. Aber es gibt keine Ärzte, die diesen chronischen Mangel attestieren und die nötige Muße verschreiben würden. Das einzige, was helfen könnte, ist aufmerksam sein und in den Spiegel blicken, wenn er vorgehalten wird. Eine sehr kleine Situation im Supermarkt. Eine leere Kasse, niemand steht an. Aber eine Frau hat schon ihren sehr vollen Korb auf das Förderband gestellt und packt aus. Ich eile hin und hoffe stark, das sie einsieht, dass ich nur eine kleine Sache kaufe und mich daher vorlässt. Ich wäre mithin beleidigt gewesen, wenn sie das nicht eingesehen hätte. Sie lässt mich vor. Hinter ihr kommt ein älterer Mann, der ebenfalls nur wenig kaufen will. Spontan bietet sie es ihm auch an. Und nun: Er lehnt ab mit den Worten “Ich habe Zeit.” Das könnte man nun auf das Rentnerdasein schieben, die eh soviel Zeit haben.
Aber viel interessanter ist ja die Perspektive, die das auf mich wirft. Das Zeitsparen ist schon so aufgesogen, dass ich es als selbstverständlich erachte, in jedem Moment Zeit für irgendetwas zu sparen. Sich Zeit zu geben, einfach dem Moment seine Geschwindigkeit zu lassen, das kann ich nicht mehr, oder nur wenn ich es bewusst mache. Aber warum will ich die Zeit sparen, mehr Zeit haben, die Zeit nicht an der Kasse vergeuden? Weil ich denke, dass es Wichtigeres gäbe, was ich damit tun könnte. Dieses Sparen ist immer auf ein unklares und diffuses Ziel, einen noch nicht manifesten Sinn ausgerichtet. Dieser stellt sich aber nie ein, weil es nie diese eine Auflösung, diese eine Tätigkeit gibt, die diesem latenten Sparen entsprechen würde. Es ist ein Sparen um des Sparen willens, nicht um der Qualität der Zeit willen.
Was hätten diese drei Minuten an der Kasse geändert? Sicherlich ist das eine luxuriöse Überlegung, wenn man sie aus einem Studentenleben heraus bringt. Soviel Zeit, wie ich jetzt habe, werde ich wohl später nie wieder haben. Aber das Problem gestaltet sich mit der Nutzung der Nach-Arbeitszeit ähnlich, vielleicht sogar noch stärker, da die Freizeit im Vergleich zur Arbeitszeit noch kostbarer wird.