Im aktuellen Spiegel wird versucht, auf der Bedrohungswelle mitzureiten. Dafür wird auch schonmal in einer Art Self-Fulfilling-Prophecy den Deutschen das “Lebensgefühl” (!) Angst unterstellt. Das allerdings nur in Bezug auf den Terrorismus, alle anderen möglichen Ängste werden ausgeklammert.
Nun stellt sich natürlich die Frage, wie sich das Thema “Terrorismus-Gefahr in Deutschland” medial aufarbeiten lässt. Es ist wenig ergiebig, diese Gefahr lediglich zu konstatieren, es braucht einen Schuldigen. Bei Naturkatastrophen und Unfällen sind dies in der Regel die Behörden, deren Kontrollen und Sicherheitsvorkehrungen zu gering waren. Dies böte sich natürlich auch bei Innerer Sicherheit an: Die Polizei hat versagt. Der Spiegel geht aber in seiner Aufdecker-Manier noch weiter und macht die Schuldigen ganz oben aus: Schuld ist das Bundesverfassungsgericht. Dazu gibt es einen üblen Hetzartikel. Ein paar Zitate:
Angriff auf Karlsruhe
Die größten Hürden im Kampf gegen den Terror hat das Bundesverfassungsgericht errichtet. Die Innenpolitiker der Großen Koalition würden sie gern beseitigen.
Spiegel (35/06)
(Einleitend wird das Verfassungsgericht als unantastbar dargestellt, die Richter als selbstgefällig und weltfremd. Dann kommt, ohne weitere Belege als die beiden geplanten Anschläge, die Hauptthese: die Bedrohungslage hat sich geändert, das Verfassungsgericht behindert den Staat bei der Terrorismusbekämpfung.)
“Ausgerechnet zwei Ermittlungsmethoden, die bei Fahndern hoch im Kurs stehen, die Rasterfahndung und der sogenannte Große Lauschangriff, sind nur noch sehr eingeschränkt möglich. In beiden Fällen haben die Verfassungsrichter den Einsatz an so hohe Vorgaben gebunden, dass sie aus Sicht von Fachleuten praktisch wertlos sind.
[…] Entsprechend deutlich fällt die Kritik am Verfassungsgericht aus. “Ich habe den Eindruck, dass einige Richter seit Jahren ihren Elfenbeinturm nicht mehr verlassen haben”, sagt der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Gehb.”
“Kein Urteil erzürnt die Kritiker des Verfassungsgerichts auch im Nachhinein noch so wie das zum Großen Lauschangriff, in dem die Richter einen “Kernbereich privater Lebensgestaltung” definierten, der bei der elektronischen Überwachung von Wohnungen unter keinen Umständen zugänglich sein darf. In der Praxis führt das zu absurden Auflagen. Kaum fällt ein vertrauliches Wort, muss die Überwachung abgebrochen werden; wenn sich die Ermittler dann irgendwann wieder zuschalten, können sie nur hoffen, dass sich das Gespräch wieder einem den Ermittlungsgegenstand betreffenden Thema zugewandt hat. […] Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamts (BKA), wird noch deutlicher: Im Polizeialltag sei die Wohnraumüberwachung durch den Beschluss aus Karlsruhe “praktisch unbrauchbar” geworden.”
Und nun das schreckliche Fazit:
“Wann immer das Verfassungsgericht in letzter Zeit zwischen dem informationellen Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit abzuwägen hatte, entschied es sich im Zweifel für den Datenschutz.”
(Die Politik und die Ermittler müssen dann irgendwie versuchen, trotz dieser unsinnigen Einschränkungen unseren Staat zu schützen. Eine Möglichkeit entdecken die Autoren immerhin am Ende noch: Man müsse endlich das Personal des Gerichts auswechseln, diese weltfremden Richter austauschen.)
Soweit der Spiegel im Jahr 2006. Allein aufgrund seiner eigenen Geschichte sollte der Spiegel eigentlich Verfechter des Datenschutzes und damit auch der Bürgerrechte sein. (Oder sollte zumindest einen ausgewogeneren Artikel schreiben.)
Das Ganze klang im Jahr 2004, als die Verfassungsrichter über den Lauschangriff entschieden hatten, zudem ganz anders.

Totes Pferd
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Großen Lauschangriff ist wegweisend – sie zwingt den Staat, sich auf Fälle von Schwerstkriminalität zu konzentrieren.
Spiegel (11/2004)
Zunächst zum großen Lauschangriff (vgl. oben):
“Viel verloren für die innere Sicherheit wäre [wenn er ganz wegfiele] nicht. Als Wunderwaffe der Verbrechensbekämpfung war die Wanzennummer bei ihrer Einführung 1998 angekündigt worden […] Der Eingriff sollte die Al Capones der Republik zur Strecke bringen, die Paten und Schattenmänner der Organisierten Kriminalität, die sich der Strafverfolgung entzogen und nun in ihrem Allerheiligsten belauscht werden sollten: in den eigenen vier Wänden.
Doch von den großen Luden ist durch den Großen Lauschangriff kaum einer zur Strecke gebracht worden. In der Regel waren es gemeine Kriminelle, Drogendealer etwa, zuweilen auch Mörder, höchst selten Terrorunterstützer. Rund die Hälfte aller Abhöraktionen scheiterten ganz.
Für das kärgliche Ergebnis nahm die Politik gravierende Beschädigungen des Rechtsstaates in Kauf: Mal belauschten Staatsdiener die Schlafzimmer-Prosa eines albanischen Kriminellen und notierten dessen Liebeslaute. Mal verkleideten sie sich als Klempner oder Alarmanlagenbauer, um Wanzen unter Waschbecken oder Stromzählern zu montierten. Oder sie überlegten, wie man dem Kind eines Verdächtigen den Schlüssel für die elterliche Wohnung klauen könnte, um das Entdeckungsrisiko beim Einbau der Technik zu minimieren. Ein ganzer Berufsstand von seriösen Strafverfolgern geriet so in den Verdacht, mit Geheimdienstmethoden zu arbeiten.”
[…]
“Klar ist: Exzessives Mitlauschen auf Grund eines vagen Verdachts wird es nicht mehr geben. Nach dem Motto “Klasse statt Masse” bleibt vor allem das fast zwangsläufige Abhören von ganzen Familien tabu. Geht es ausschließlich um Gespräche mit unbeteiligten Verwandten, müssen die Kriminalen künftig abschalten – de facto ein Ende durch die Hintertür. “Wie das gehen soll, dazu fällt mir nichts mehr ein”, klagt der Vize-Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalisten, Holger Bernsee. “Sollen wir dann den Stecker rausziehen, wenn die Frau ins Zimmer kommt?”
So zwingt Karlsruhe die Ermittler, sich auf die wirklich zentralen Ermittlungsverfahren etwa der Terrorismusbekämpfung zu konzentrieren. Operationen wie das Mithören in einer konspirativen Wohnung von Islamisten bleiben ebenso möglich wie das Lauschen zur Gefahrenabwehr.
Das Fazit damals:
“Effektivität allein, das lehrt der Richterspruch, kann auch für einen starken Staat nicht die Maxime sein, der Zweck nicht alle Mittel heiligen. Es ist eine ebenso mutige wie ungewöhnliche Entscheidung wider den Zeitgeist: Während die Briten gerade über weitere, massive Einschränkungen elementarer Freiheitsrechte nachdenken und die Amerikaner auf Terror mit Unrecht antworten, schieben die Hüter der Verfassung der allzu eilfertigen Ausdehnung staatlicher Repression einen Riegel vor. Auch in Zeiten der Terrorismusbekämpfung, das ist die Botschaft, darf der Staat nicht alles und nicht um jeden Preis.”
Dieser Vergleich zeigt, für mich, in erschreckender Weise, wie sehr der Spiegel bei der öffentlichen Meinungsbildung nur noch mitschwimmt. Ein Artikel gegen den Zeitgeist, mit einem ähnlichen Tenor wie damals, wäre dem Thema angemessen gewesen. Beispielsweise: “Die Terroristen haben dann gewonnen, wenn sie uns dazu bringen unseren Rechtsstaat für die Terrorprävention aufzulösen.” Oder auch einfach nur ein Artikel, der auf das real vorhandene Spannungsfeld zwischen Terrorbekämpfung und Bürgerrechten hinweist. So aber führt der Spiegel lang und breit in Bildzeitungs-Manier folgende Schlagzeile aus: “Die Richter sind schuld! Wie das Verfassungsgericht unsere Sicherheit gefährdet.”