Es wurden schon etliche Zeitungsmeter über Thilo Sarrazin und seine Thesen geschrieben. Eigentlich ein Grund dem hier nun nichts weiter hinzuzufügen. Was ich allerdings bisher sehr vermisst habe, ist eine klare Analyse seiner Thesen, eine klare Einordnung in die verschiedenen Diskurse. Das erscheint mir nämlich das besondere an diesem Fall zu sein: Er hat viele Diskurse, die bisher kaum miteinander verbunden waren, in einem Buch zusammengebracht. Die verschiedenen Diskurse erklären auch die verschiedenen Reaktionen. Eine Widerlegung der Thesen kann ich an dieser Stelle aber nicht leisten.

Da ist zunächst der Ausländerkriminalitätsdiskurs, der besagt: „In Deutschland lebende Ausländer sind gewälttätiger als gleichaltrige Deutsche.“ Daran schließen sich die Ängste und Erfahrungen der Bevölkerung an. Der große Tenor dieser Ängste: „Wir fühlen uns in unserem(!) Deutschland nicht mehr sicher.“ Dieser Angst-Diskurs ist auch schon gut medial befüllt worden, beispielsweise von Roland Koch nach dem Überfall auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn.

Dieser Diskurs wird aufgesetzt auf einen allgemeinen Integrationsdiskurs. Die neutrale Grundfrage dabei lautet: „Wie kann man Migranten richtig integrieren?“ Die Antwort: Durch Sprache, Bildung und Beruf. Ergänzt wird das ganze oft um eine Werte-Debatte, an die sich (meist konservative) Leitkultur-Vorstellungen knüpfen. So offen diese Grundfrage und ihre Antwort zunächst erscheinen, so unverhohlen steht bei einem möglichen Misserfolg die Drohung im Hintergrund: „Wenn sie sich unserer Kultur nicht unterordnen wollen, dann haben sie hier nichts zu suchen.“ Sarrazin konstatiert nun einen kollektiven Misserfolg der arabisch- und türkischstämmigen Einwanderer – in der Schule und im Arbeitsmarkt.  Allerdings wird das ganze, und das ist erstaunlich, nicht an den (eher linken) Diskurs um unser hoch selektives Bildungssystem angeschlossen. Es ist ja nachgewiesen, dass das deutsche Bildungssystem Kinder aus bildungsfernen Schichten und Migrantenkinder systematisch benachteiligt und ausschließt. Sarrazins Argumentation ist eine andere: Der Einwanderer muss seinen Integrationswillen beweisen – unabhängig von den Strukturen, in denen er sich befindet.

Hier wird eine Logik umgekehrt: Es gibt keine strukturellen Probleme, sondern nur noch individuelle Probleme. Arbeitslosigkeit entsteht nicht aus Arbeitsplatzmangel, sondern aus individuellem Unvermögen und Faulheit. Misslungene Integration entsteht nicht durch kollektive Benachteiligung oder Ausschluss vom Arbeitsmarkt, sondern durch individuellen Integrationsunwillen. Es stellt sich die Frage: Wollen „die“ sich überhaupt integrieren oder doch nur in „unserem“ Deutschland ausruhen?

Daran schließt sich direkt der Sozialstaatsdiskurs an, der besagt: „Der Ausländer ist ein Schmarotzer, der nur hierher gekommen ist, um sich in die deutsche soziale Hängematte fallen zu lassen.“ Das ist ein Diskurs der schon seit etwa zehn Jahren intensiv gepflegt wird, bisher jedoch im wesentlichen über Hartz-IV-Missbrauchsfälle funktionierte. Das Bild des faulen Arbeitslosen wird nun auch auf den faulen Ausländer übertragen. Das Grundmotiv, das diesen Diskurs in der Bevölkerung so erfolgreich macht, ist die Angst des Einzelnen vor Arbeitslosigkeit und dem damit einhergehenden sozialen Abstieg. Diese Ängste, das sei nur am Rande erwähnt, sind politisch erwünscht und durch die Einführung von Hartz IV intensiv befördert worden.

Ein vierter Diskurs, den Sarrazin einbindet, ist der klassisch rechte Diskurs zur Überfremdung Deutschlands. Es ist die Angst, dass „unser Volk“ durch zuviele Einwanderer aussterben könnten, da diese auch eine höhere Geburtenrate aufweisen (sollen). Dieser Diskurs schließt wiederum an den demographischen Diskurs an, der dem deutschen Volk eine extreme Überalterung voraussagt und die Kinderlosigkeit beklagt. Differenzierter betrachtet spaltet sich das letztere dann noch in das Klagen über die Kinderlosigkeit der Akademikerinnen und das dazugehörige Beklagen des sich scharenweise vermehrenden „Pöbels“, also der Hartz-IV-Familien. Dies wurde nun von Sarrazin auf Ausländer umgemünzt.

An diesen letzten Diskurs schließt er nun weitere Diskurse an. Zunächst die wissenschaftliche Debatte über die Erblichkeit von Intelligenz. Eine sehr alte Debatte (Natur vs. Kultur, Sein vs. Bewusstsein), die politisch hoch brisant ist, da im konkreten Fall die Erblichkeit von Intelligenz an den Grundfesten unserer Gesellschaft rüttelt. Erbliche Intelligenz widerspricht dem Gedanken, dass alle Menschen durch Bildung den Aufstieg schaffen können und dass alle Menschen die gleichen Chancen in unserer Gesellschaft haben.

Die Verknüpfung der beiden Diskurse – Aussterben der Deutschen und Erblichkeit von Intelligenz – eröffnet einen weiteren Diskurs, in dem Menschen nach ihrem „Wert“ für die Gesellschaft beurteilt werden. Implizit sagt er somit, dass sich nur bestimmte Menschen vermehren sollten. An dieser Stelle und bei der Überfremdungsthese schließt er direkt an rechtes, auf Eugenik hinauslaufendes Gedankengut an.

Die Argumentation ist also wie folgt: Sarrazins Grundfrage lautet „Was machen Ausländer, insbesondere türkisch- und arabischstämmige, eigentlich in Deutschland?“ Antwort: Sie integrieren sich nicht durch schulische Leistungen oder über einen ordentlichen Job. Stattdessen bedrohen sie uns nachts in der U-Bahn und auf dem Weg nach Hause. Tagsüber leben sie dann auf unsere Kosten von unserem Sozialstaat. Und da es ihnen damit so gut geht, pflanzen sie sich (und damit auch diese Mentalität) auch noch unentwegt fort – in Parallelgesellschaften, die in naher Zukunft unsere Hauptgesellschaft ersetzen werden.

Insgesamt kann man feststellen, dass Sarrazin die bestehenden Diskurse über Arbeitslose (Soziale Hängematte, Dumme vermehren sich) konsequent auf Ausländer übertragen und zusätzlich um die Komponente der Ausländergewalt ergänzt hat. Hinzu kommt allerdings, dass er bei dieser Ummünzung gleichzeitig auch begonnen hat, stark biologistisch zu argumentieren und Völkern bestimmte genetische Dispositionen zu unterstellen.

Die Zustimmung, die ihm aus der Bevölkerung entgegengebracht wird, basiert im Wesentlichen auf den ersten Diskursen zur Ausländerkriminalität, zum Integrationsunwillen und zum Sozialstaatsmissbrauch. Das erklärt das „Er hat eigentlich recht, …“. Der letzte Diskurs mit all seinen logischen Folgerungen führt zu der gern gebrauchten Ergänzung: „…, aber so hätte er es nicht sagen dürfen.“ Die Zustimmung zu den ersten Themen basiert jedoch nur bedingt auf faktischer Richtigkeit, sondern eher auf der medialen Etabliertheit der Vorgänger-Diskurse, an die sie angeschlossen wurden.

Das von der Bevölkerung zusätzlich im Kontext einer möglichen Bestrafung gerne gebrauchte „Das muss man doch mal sagen dürfen“ zeigt zudem, wie gut sich Sarrazin mit diesen Thesen gegen den vermeintlichen linken Medien-Mainstream gestellt hat. Die dazugehörige Debatte über Political Correctness hat eine sehr lange Tradition. Die Hauptthese dabei ist, dass sich die medialen Tabus gewandelt haben: Früher gab es eher rechte Tabus, heute eher linke Tabus. Diese Tabus werden durch die geforderte Political Correctness abgesichert. Man dürfe nicht sagen, dass die meisten Ausländer kriminell sind oder dass diese ganze Integration überhaupt nicht funktioniert. Alles, was dem „sozialpädagogischen“ Konsens der siebziger Jahre widerspreche, dürfe heute nicht mehr öffentlich ausgesprochen werden. Die Linken widersprechen dem, indem sie die Gegenthese aufstellen und behaupten, dass solche Tabus gar nicht existieren und der Tabubruch nur als Absicherung für eine extreme, rechte Meinungsäußerung inszeniert werde. Die Grenzen des Sagbaren sollen so immer weiter nach rechts verschoben werden. An den Stammtischen – also jenseits dieser wissenschaftlichen und medialen Debatte – ist vermutlich stärker die öffentliche Forderung nach politisch korrekter Sprechweise angekommen. Daher auch die häufige Reaktion „Das muss man doch mal sagen dürfen!“ Das Volk glaubt, dass die Politiker einen Maulkorb hätten, wenn es um bestimmte Probleme oder Personen ginge. Sarrazin wirkt da wie einer, der endlich mal Klartext redet. Er wendet sich mit seinen Thesen ja auch konkret gegen linke Vorstellungen (die so vielleicht gar nicht mehr existieren, aber von Konservativen immer wieder gern als Schimären benutzt werden, um sich davon abzugrenzen): Beispielsweise dass Deutschland eine integrative Multikulti-Republik sei oder dass alle Kinder durch Bildung das Gleiche erreichen könnten.

Die Folgen dieser Debatte, jenseits der sinnlosen Diskussion über die angekratzte Unabhängigkeit der Bundesbank, sind.

1. Eine Diffundierung von rechtsradikalen Positionen in die öffentliche Debatte, die dann sogar noch als des Volkes Stimme dargestellt werden können. Um dies zu verhindern, ist eine klare Analyse nötig, welchem Teil der kruden Thesen Sarrazins eigentlich zugestimmt wird (siehe oben), damit diese dann auch gezielt widerlegt werden können.

2. Ein Trend zur Individualisierung von kollektiven Problemen und zur Verleugnung einer gesellschaftlichen Verantwortung. Der Ausländer ist nun selbst an seiner Nicht-Integration Schuld, genauso wie der Arbeitslose an seiner Arbeitslosigkeit. Die gesellschaftliche Dimension dieses Prozesses gerät zunehmend aus dem Blick, stattdessen richtet sich der Blick auf das Individuum, das am Ende beweisen muss, dass es wirklich alles für seine Integration getan hat.

3. Das gesellschaftliche Protestpotential kanalisiert sich zunehmend in der Wut auf gesellschaftliche Randgruppen (Arbeitslose, Ausländer) und entfernt sich immer weiter von der sozialen Frage und vom Konflikt zwischen Arm und Reich.

4. Die Union will diese Debatte nutzen, um ihr konservatives Profil zu schärfen und eine Partei rechts von sich zu verhindern. Da einige Medien und Politiker behaupten, die CDU habe sich von ihrer konservativen Wählerschaft verabschiedet, wäre ein Rechtsruck der CDU die Folge. Das allerdings suggeriert, dass die CDU zuvor links gestanden habe und es eine Angleichung an die linken Parteien gegeben habe. Die Union kann also aus der bisherigen, angeblich sozialen Position – Volkes Willen sei dank – nun nach rechts rücken und die Probleme angehen (siehe 5.).

5. Eine Verschärfung des Asylrechts oder des Jugendstrafrechts. Durch den Diskurs wird suggeriert, dass Deutschland jeden aufnehme und sich in Zukunft seine Migranten besser aussuchen sollte. Eigentlich ist Deutschland auch bisher kein attraktives Land für Einwanderer gewesen und es ist beileibe kein Zuckerschlecken sich in die „deutsche Hängematte“ fallen zu lassen, da Deutschland eines der restriktivsten Einwanderungsrechte in ganz Europa hat. Es wäre tragisch für bisherige wie auch zukünftige Einwanderer, wenn dieses nun noch weiter verschärft wird, da man auf des Volkes Stimme hören will (siehe 4.). Ähnliches gilt für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts. Solche Maßnahmen lösen keines der Probleme.

Quelle: Nina Gerlach (CC BY-SA 3.0)