In letzter Zeit stelle ich immer wieder fest, dass es unterschiedliche Bereiche der Reflektion gibt. Die Klugheit eines Menschen sagt meist nur wenig über seine Reflektiertheit über die ihn im Alltag umgebenden Strukturen aus. Die Anwendung der intellektuellen Fähigkeiten beschränkt sich meist auf die eigene Arbeit und das politische Tagesgeschehen.
Für den gebildeten Bürger ist es klar, dass er eine Meinung zum tagespolitischen Geschehen hat – zu all den Skandalen, zu den Gesetzesinitiativen oder zu den Protestbewegungen. Weniger klar ist jedoch, ob er auch eine Meinung zu den medialen Strukturen hat, in denen ihm all das dargeboten wird. Ist ihm klar, dass die Berichterstattung über ein Ereignis extrem einseitig sein kann und dass es ebenso andere Positionen geben kann, die medial nicht genannt werden? Ist ihm klar, dass die medialen Strukturen der Aufmerksamkeitserzeugung eine Berichterstattung über viele, alltägliche Themen gar nicht erlauben? Diese medienkritischen Fragen ließen sich fortsetzen. Dabei ist es für mich immer wieder erstaunlich, wie parallel die Argumentationen wirklich kluger Menschen zu denen der Medien verlaufen – insbesondere auch von Menschen, die gesellschaftlich zum Inbegriff von Klugheit gemacht werden: Von Universitätsprofessoren.
Früher habe ich das immer damit erklärt, dass das ja auch nur Medienkonsumenten sind. Man kann nicht erwarten, dass sich jeder kritisch mit den Medien auseinandersetzt. Heute würde ich das noch erweitern: In meinen Augen gibt es Sonder-Reflektions-Bereiche, die neben oder quer zu den „normalen“ Bereichen von gedanklichen Auseinandersetzungen liegen. Es sind Bereiche, in denen sich Menschen kritisch mit den sie umgebenden Strukturen auseinandersetzen, statt sie als gottgegeben und alternativlos hinzunehmen. Ich lese zum Beispiel bei medialen Inhalten immer auch die medialen Darstellungsweisen mit und frage mich dann fast automatisch: „Ist das wirklich alles? Was steckt eigentlich dahinter?“
Aber dass sich dieser Sonder-Reflektions-Bereich bei mir etabliert hat, ist durch meine persönliche Beschäftigung mit den Medien bedingt. Angestachelt wird die Entstehung solcher Sonder-Reflektions-Bereiche also vermutlich zum einen von der Entdeckung, dass die Strukturen, wie sie uns präsentiert werden, auch anders und besser sein könnten, zum anderen oftmals auch aus der Angst vor negativen, gesellschaftlichen Entwicklungen. Diese Bereiche speisen sich somit aus den beiden Seiten des Möglichkeitssinns: Dem Denken von positiven und negativen Alternativen zum Jetzt-Sein.
Um das zu illustrieren, vielleicht noch zwei Beispiele: Ein Freund von mir ist im Sonder-Reflektions-Bereich „Kapitalismus“ sehr bewandert. Für ihn sind Reflektionen darüber, über das Wesen des Kapitalismus und wie es unsere Gesellschaft bis in die persönlichen Beziehungen prägt, völlig selbstverständlich. Er hat dort ein weites Spektrum von in sich schlüssigen Argumentationen entwickelt. Ich kann damit oft nichts anfangen und verstehe die Argumentationen zwar ansatzweise, sehe aber weder das akute Bedrohungspotential noch die Möglichkeiten zur Änderung.
Ein Bereich, in dem es mir wie ihm ergeht und ich oft auf Unverständnis stoße, ist der des „Datenschutzes“. Es gibt kluge Menschen, denen es einfach egal ist, was mir ihren persönlichen Daten passiert. Sie können sich einfach nicht vorstellen, wohin die aktuellen Entwicklungen führen könnten. Dieser von Skepsis geprägte Gedanken-Bereich ist für sie unzugänglich.
Man erkennt an diesen beiden Beispielen auch, dass es gesellschaftlich akzeptierte und weniger akzeptierte Sonder-Reflektions-Bereiche gibt: Die Reflektion über den Kapitalismus war in den 70er und 80er Jahren sehr beliebt, die Reflektion über den Datenschutz ist es heute.
Man muss in diesem Zusammenhang allerdings auch berücksichtigen, dass solche Sonder-Reflektions-Bereiche das Leben in unserer Gesellschaft nicht gerade einfacher machen. Upton Sinclair soll einmal gesagt haben: „Es ist schwer, einen Mann dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen.“ Vielleicht kann man diesen Spruch auch noch abwandeln: „Es ist schwer, jemanden dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Lebenskomfort davon abhängt, es nicht zu verstehen.“