Eigentlich hatte ich mir geschworen, immer ehrlich zu sein. Eigentlich sollte es nur ein paar Ausnahmen geben, wann ich nicht die Wahrheit sagen würde. Eine solche Ausnahme hatten wir damals im Ethikunterricht in meiner Schule durchgespielt. Dafür standen dann Gestapo-Leute bei dem Mann, der Juden versteckte, vor der Tür und fragten: „Haben Sie Juden im Haus?“ In diesem Fall war es eine moralische Notwendigkeit zu lügen. Nun habe ich aber eine weitere Form der berechtigten Lüge entdeckt: Die absurde Ehrlichkeit.
Ein Beispiel: Auf einer Party saß ich auf einer Couch, vor uns standen Leute. Nach einer Weile gingen sie weg und es blieb ein 5-Euro-Schein auf dem Boden liegen. Der Schein lag genau an der Stelle, an der ein Typ gestanden hatte, den ich flüchtig kannte. Ich hob den Schein auf und suchte den Typen – aber er war bereits gegangen. Nun ist die Frage: Soll ich diesem Typen, der mich kaum kennt, auf der Straße Tage später noch diesen 5-Euro-Schein geben? Immer wenn ich ihn sehe, muss ich darüber nachdenken und entscheide mich dagegen.
Das Wiedergeben wäre wirklich absurd ehrlich. Es überschreitet eine Grenze der Ehrlichkeit, deren Existenz mir zuvor gar nicht bewusst war. Scheinbar gibt es auch so etwas wie eine „normale“, gesellschaftlich akzeptierte Ehrlichkeit und eine „ungesunde“, übertriebene Ehrlichkeit.