Mich erstaunt immer wieder, wie unausgewogen die deutschen Medien über die Krise in der Ukraine berichten. Mit ein wenig Zeit und ein wenig Recherche insbesondere auf englischsprachigen Seiten lassen sich die Ereignisse doch recht gut rekonstruieren. Daher will ich hier mal einen Versuch wagen.

Kurze Vorgeschichte der Entwicklungen in der Ukraine
Die Ukraine besteht aus einem Ostteil, der sich traditionell eher an Russland orientiert, und einem Westteil, der sich an Europa orientiert. Seit der Auflösung der UDSSR streiten nun beide Teile um die Macht. Im Jahr 2004 gewannen nach der sogenannten Orangenen Revolution die EU- und westfreundlichen Kräfte die Oberhand. Nach mehreren Jahren der Uneinigkeit und auch der Korruption innerhalb der prowestlichen Kräfte, gewannen im Jahr 2010 die prorussischen Kräfte um den Präsidenten Viktor Janukowitsch die Macht.

Aktuelle Entwicklungen
Der bisherige, russlandfreundliche Präsident Janukowitsch sieht sich 2013 vor die Wahl gestellt, ob er ein Assoziierungsabkommen mit der EU oder ein Abkommen über die Etablierung einer eurasischen Freihandelszone mit Russland unterschreibt. Das ausschließliche Entweder-Oder kommt zunächst von der EU. (vgl. hier) Später erhöht auch Russland den Druck auf die Ukraine, indem es ankündigt, dass bei einem EU-Assoziierungsabkommen, die Einfuhr von ukrainischen Waren neu berechnet werden müsste. (vgl. hier) Janukowitsch will das Abkommen dennoch unterschreiben. Allein die EU knüpft an das Abkommen die Bedingung, dass Janukowitschs Konkurrentin Julia Timoschenko freigelassen werden sollte. Janukowitsch empfiehlt dem Parlament dies, das Parlament lehnt es jedoch ab. (vgl. hier)
Hinzu kommt an dieser Stelle auch die aktuelle finanzielle Situation der Ukraine: Sie steht kurz vor der Pleite und bräuchte dringend neue Kredite. Die EU würde der Ukraine zwar Geld leihen, aber bei weitem nicht genug und dieses Geld wäre zudem an die Bedingung geknüpft, „strukturelle Reformen“ durchzuführen (siehe Griechenland). Ähnlich verfährt auch der Internationale Währungsfond. Mit einer Unterzeichnung des Abkommens ließe sich somit die prekäre finanzielle Lage nicht lösen. Russland bietet jedoch Kredite in ausreichender Höhe an, ohne Bedingungen zu stellen, und bietet zusätzlich eine Reduktion des Gaspreises an. In dieser Situation entscheidet sich Janukowitsch dafür, das EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterzeichnen. Der ukrainische Ministerpräsident, Mykola Azarov, plädiert stattdessen für die Aufnahme von Verhandlungen sowohl mit Russland als auch mit der EU. Dies lehnt die EU jedoch auf dem Gipfel in Vilnius ab. (vgl. hier)

Darauf bildet sich eine Protestbewegung, die dann öffentlichkeitswirksam den Maidan-Platz in Kiew besetzt. Sie besteht aus unterschiedlichsten Kräften und ist vielleicht zunächst sogar mit einer Graswurzel-Bewegung vergleichbar, die sich aus politisch Unzufriedenen rekrutiert. Allerdings wird diese Maidan-Bewegung bald auch politisch duch Parteien überformt und von militanten rechten Kräften unterwandert.

Amerikanische und Europäische Beteiligung?
Diese Bewegung kommt natürlich der EU und den USA sehr gelegen, wenn sie von diesen nicht sogar bewusst initiiert wurde. Die amerikanische EU-Beauftragte Victoria Nuland hat erstaunlich offen erklärt, dass die USA in den letzten Jahren 5 Milliarden in der Ukraine für einen Regimechange investiert hätten. (vgl. hier) Eine solche Einflussnahme läuft gewöhnlich über Stiftungen, die vor Ort arbeiten und den Aktivisten Geld und Wissen zur Verfügung stellen. 2004 soll es beispielsweise mithilfe von amerikanischen Stiftungen gelungen sein, dass die Wahl Janukowitschs zum Präsidenten ungültig erklärt wurde. Es gab Neuwahlen, aus denen die USA-freundliche Julia Timoschenko als Siegerin hervorging. (vgl. hier)
Grundsätzlich kann man festhalten, dass es eigentlich naiv wäre, anzunehmen, dass die USA diese Bewegung nicht unterstützt hätten – vor dem Hintergrund ihrer jahrzehntelangen Putsch-Geschichte (z.B. Iran, Brasilien, Guatemala, Chile).

Anfang Februar sieht die Situation in Kiew so aus: Obwohl die Maidan-Bewegung bereits mehrere Monate besteht, hat sich an den politischen Machtverhältnissen nichts geändert. Es besteht die Gefahr, dass die Bewegung ihr Momentum verpasst hat. Vor dieser Entscheidung stehen irgendwann die meisten Bewegungen: Sich auf das politische Spiel einlassen und durch Kompromisse abgeschliffen werden (z. B. Grüne) oder sich zu radikalisieren und das System als Feind zu begreifen (z. B. RAF). Die Bewegung hat ein Angebot von Janukowitsch für eine größere politische Beteiligung abgelehnt. (vgl. hier) Die Maidan-Bewegung wählte also den zweiten Weg: Sie radikalisiert sich. Diese Radikalisierung betrifft natürlich nicht alle Protestierenden, sondern nur einen (eher rechts ausgerichteten) Teil. Das Kiewer Rathaus wird besetzt, brennende Barrikaden werden aufgebaut und erste Gefechte mit der Polizei verdeutlichen der Regierung die neue Situation. Es geht darum, die Regierung zur polizeilichen oder zur militärischen Gegenreaktion zu zwingen. Die Regierung hat in dieser Situation kaum eine Wahl: Verhandlungen sind nicht mehr möglich, wenn sich ein Teil der Protestbewegung radikalisiert. Schaut sie den radikalen Aktionen ihrer Gegner nur zu, werden diese sich immer weiter steigern. Die Regierung wird zum Eingreifen gezwungen, da sie auch die Aufrechterhaltung der „staatlichen Ordnung“ garantieren muss: Entweder die staatliche Ordnung wird bei einem Nicht-Eingreifen sukzessive durch die Regierungsgegner aufgelöst oder sie wird durch eine militärische Gegen-Aktion in extremer Weise wiederhergestellt – meist mit dem Rebound-Effekt, dass die Regierung dann unter Rechtfertigungsdruck gerät. Die militärische Gegenreaktion wird daher von den Gegnern oftmals bewusst eingeplant. Martin Luther King hatte beispielsweise bewusst seine Demonstrationen für die Rechte der Schwarzen gerade in der Stadt geplant, die einen der repressivsten Polizeichefs hatte. Gerade die Fotos, die bei der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen entstanden, sorgten USA-weit für Empörung und dafür, dass John F. Kennedy einschreiten musste und letztlich (nach dem Marsch auf Washington) die Rassentrennung aufhob. (vgl. hier)
Vor dem Hintergrund der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit für die Prozesse in der Ukraine war eine empörte Reaktion der (westlichen) Welt-Öffentlichkeit auf die Niederschlagung der radikalen Proteste einplanbar. Deshalb rief die Maidan-Bewegung zu einem Marsch auf das Parlament, das Herzstück der staatlichen Ordnung, auf. Im Parlament sollte an diesem Morgen über die Forderungen der Bewegung diskutiert werden.

EU-Sicht des Beginns der gewaltsamen Proteste
Aus EU-Sicht starteten die gewalttätigen Proteste, nachdem Russland eine weitere Zwei-Milliarden-Dollar-Tranche seines Kreditpakets in Höhe von 15 Milliarden an die Ukraine überweisen wollte. Daran sollte, laut EU und USA, die Bedingung geknüpft gewesen sein, härter gegen die Demonstranten vorzugehen und den Maidan endlich räumen zu lassen.(vgl. hier) Diese Version erscheint wenig plausibel, da – zumindest laut der chronologischen Nacherzählung des 18. Februars auf der englischen Wikipedia-Seite – zuerst der Marsch auf das Parlament begann und dann die Proteste gewaltsam zerschlagen wurden. (vgl. hier)

Jedenfalls wird die Bewegung militärisch zurückgedrängt und der Maidan-Platz gewaltsam geräumt. Es sterben mehr als 80 Menschen auf Seiten der Protestierenden. Die Regierung gerät in die Krise: Der Innenminister, der den Einsatz angeordnet hatte, muss zurücktreten. Vermittelt durch die Außenminister von Polen, Deutschland und Frankreich verhandeln Janukowitsch und die (politischen) Vertreter der Maidan-Bewegung am kommenden Tag. Ein Kompromiss wird beschlossen: Die Verfassung, die 2010 zugunsten Yanukowitschs hin zu einem präsidialen System verändert worden war, wird wieder zu einem (eher) parlamentarischen System geändert; Neuwahlen sollen zügig stattfinden; die blutige Niederschlagung der Aufstände soll untersucht werden; die besetzten Gebäude verlassen werden. (vgl. hier) Ein Rücktritt Janukowitschs ist nicht vorgesehen. Auf dem Maidan wird der Kompromiss deshalb abgelehnt und der Rücktritt der (politischen) Verhandlungsführer gefordert. (vgl. hier) An dieser Stelle geschieht etwas Unerwartetes: Die Polizei, die Janukowitschs Amtssitz bisher geschützt hatte, verlässt ihre Posten und kehrt in ihre Heimatstädte zurück. Da er nun dem Mob ausgeliefert wäre, flieht Janukowitsch und taucht unter. (vgl. hier) Dieser politische Trick, für den ich bisher noch keine schlüssige Erklärung gefunden habe, hat die Situation in der Ukraine letzten Endes komplett gekippt. Erst so gelangte die Opposition wirklich an die Macht in der Ukraine. Etwa zeitgleich wird Janukowitsch vom Parlament des Amtes enthoben und ein enger Vertrauter der gerade erst freigelassenen Julia Timoschenko, Oleksandr Turchynov, zum neuen Übergangspräsidenten gewählt. In der Folge besetzt die Opposition alle wichtigen Ämter. Zum Ministerpräsidenten wird Arseniy Yatsenyuk gewählt, der nach geleakten Telefongesprächen auch der Favorit der USA für dieses Amt war. Vitali Klitschko, ebenfalls einer der (politischen) Führer der Maidan-Bewegung, bekommt kein Amt – just so, wie es die USA gewünscht hatten. (vgl. hier)

Offen bleibt nach den beschriebenen Ereignissen die Frage, ob die neue Regierung auf legalem Wege oder durch einen Putsch an die Macht gekommen ist. (vgl. hier) Aus russischer Sicht war es ein Putsch, aus europäischer Sicht wurde die neue Regierung gewählt. Die neue ukrainische Regierung wird dementsprechend sofort von vielen europäischen Staaten und den USA als legitime Vertretung der Ukraine anerkannt. An dieser Stelle hatten es die USA und die EU geschafft: Die Ukraine war wieder an den Westen angegliedert und Moskaus „Fängen“ entrissen. Der neue Ministerpräsident kündigte auch gleich an, das Assoziierungsabkommen mit der EU zügig umzusetzen. (vgl. hier) Die angespannte finanzielle Lage der Ukraine war damit aber noch nicht gelöst. Die Zusagen der EU und der USA blieben weiterhin zu niedrig. Aber angesichts der weiteren Ereignisse stand diese Frage erst einmal nicht mehr im Vordergrund.

Blowback I: Aufnahme der Krim
In jedem komplexen System führt das Drehen an einem Rädchen zu einer Veränderung an anderer Stelle. In einem fragilen staatlichen Gebilde wie der Ukraine mussten diese Entwicklungen logischerweise auch einen solchen Blowback auslösen. Der erste Blowback kam durch Russland. Durch den plötzlichen Regierungswechsel in Kiew wurden vitale Sicherheitsinteressen Russlands getroffen, so dass Russland sich zu einer Gegenreaktion gezwungen sah. Russland und die Ukraine hatten 1997 in einem Vertrag geregelt, dass zwei getrennte Armeen entwickelt werden sollten, die Schwarzmeerflotte jedoch bis 2017 in Sewastopol stationiert werden darf. Im Jahr 2010 verlängerte der neue Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, in einer seiner ersten Amtshandlungen, diesen Vertrag bis 2042. Teil des Deals war, dass die Ukraine verbilligtes Gas von Russland beziehen kann. Diese Verlängerung war hochumstritten: In der postsowjetischen Ära wollten viele Ukrainer keine russischen Truppen mehr auf ihrem Boden. (vgl. hier)
Der Vertrag mit der Schwarzmeerflotte wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die neue Regierung in Kiew bald wieder aufgekündigt worden. Für Russland waren dieser Vertrag und auch der militärische Zugang zum Schwarzen Meer von höchstem sicherheitsstrategischem Interesse. Daher nutzte Russland die neue Lage, um das Problem der Stationierung langfristig zu lösen: Es nahm die Krim nach einem positiven Referendum der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung in die Russische Föderation auf. Dieser Schritt war sehr umstritten, nicht nur aus Sicht der EU und der USA, sondern auch für Russland selbst.

Viele Staaten haben mit sezessionistischen und separatistischen Bewegungen innerhalb ihrer Landesgrenzen zu kämpfen. Hier sei nur an die ETA im Baskenland oder an die PKK in der Türkei erinnert. Aber auch Russland hat in Tschetschenien eine eigene separatistische Bewegung im eigenen Land. Könnte die Aufnahme der Krim nicht solche innerrussischen Bewegungen bestärken? Wird damit nicht die Büchse der Pandora geöffnet? Aus russischer Sicht wurde sie schön geöffnet – durch die Loslösung des Kosovos auf Serbien im Jahr 2008. Gegen den ausdrücklichen Widerstand Serbiens und seines Verbündeten Russland unterstützte die EU und die USA die einseitige Loslösung des Kosovo und erkannten die neue Republik innerhalb kürzester Zeit an. (vgl. hier) Gerade die Einseitigkeit ist das große Problem: Ein Teil eines funktionierenden Staates erklärt sich selbst als unabhängig und wird von anderen Staaten anerkannt. Das gefährdet die Idee der staatlichen territorialen Integrität. Auf dieser Seite sind die Auswirkungen und Einschätzungen der Unabhängigkeit des Kosovo sehr anschaulich zusammengefasst.
Nachdem bereits die russische Anerkennung von Südossetien im Jahr 2008 eine direkte Reaktion auf die Ablösung des Kosovo war, beziehen sich die Krimregierung und die russische Regierung nach dem Referendum ebenfalls auf den Präzedenzfall der Loslösung des Kosovo. (vgl. hier) Die Aufnahme der Krim ist für Russland in diesem Fall eine weitere, aus sicherheitsstrategischen Interessen sinnvolle Retourkutsche für die Düpierung im Falle des Kosovos.

Die EU und die USA sind zu diesem Zeitpunkt düpiert und müssen machtlos zusehen, wie Russland die Krim aufnimmt. Die USA setzen auf Sanktionen, die sich gegen die zweite Reihe der russischen Regierung richten. Sie wollen Russland international isolieren – was, wenn man nur deutsche Medien liest, als vollkommen gelungen erscheint. International gesehen, steht Russland allerdings alles andere als isoliert da: Es genießt beispielsweise die Unterstützung der BRICS-Staaten und der blockfreien Staaten. (vgl auch hier)

Bis zu diesem Zeitpunkt schien die Lage in der Ukraine noch überschaubar: Es gab einen Coup d’etat der Amerikaner unter dem Deckmantel, dass das Volk die Demokratie und die Freiheit des Westens wolle, und einen Gegen-Coup der Russen unter dem Deckmantel, dass die russische Bevölkerung auf der Krim Schutz suche vor der neuen antirussischen Regierung in Kiew. Wenn es dabei geblieben wäre, würde jetzt niemand mehr über die Ukraine reden. Da die Ukraine aber, wie oben beschrieben, ein extrem gespaltenes Land ist, war die Krimkrise nur die Ouvertüre für die Sezessionsbewegungen im Land.

Blowback II: Die Situation in der Ostukraine
Den zweiten Blowback stellen die Bürgerbewegungen im Osten der Ukraine dar. Der russisch-dominierte Osten der Ukraine sieht sich seit dem Umsturz nicht mehr durch die Regierung in Kiew repräsentiert. Und das zu Recht. Es sitzen keine Repräsentanten des Ostens in der Regierung. Auch die Entscheidungen der neuen Regierung haben der östlichen Bevölkerung keine Zuversicht gegeben: So wurde beispielsweise die Möglichkeit abgeschafft, in den Regionen eine zweite Landessprache neben dem Ukrainischen einzuführen. In ihrem Wunsch, das Land durch die ukrainische Landessprache zu einen, hat die neue Regierung damit aber die Regionen, die einen hohen Anteil an russischsprachiger Bevölkerung haben, deutlich vor den Kopf gestoßen. (vgl. hier) Außerdem führt der Wunsch, die Ukraine stärker in Richtung der EU auszurichten, zu einer Abgrenzung von Russland. Das wird besonders in den östlichen Regionen als existentielle Bedrohung empfunden, die industriell stark mit Russland kooperieren.
Aus dieser Unzufriedenheit ist eine breite Protestbewegung entstanden. In den deutschen Medien könnte diese Bewegung eigentlich ähnlich wie die Maidan-Bewegung dargestellt werden: Es handelt sich um Bürgerbewegungen, die sich nicht mehr von ihrer Regierung vertreten fühlen. Sie veranstalten Demonstrationen, die aber die Wahrnehmungsschwelle der deutschen Medien nicht überschreiten. Die Bewegung hat aber – ähnlich der Maidan-Bewegung – auch einen radikalen und militanten Teil, der Rathäuser besetzt und Barrikaden aufbaut. Diese Bilder schaffen es gerade tagtäglich in die deutschen Medien. Während bei der Protestbewegung auf dem Maidan die militanten, rechten Kräfte nahezu komplett ausgeblendet wurden, werden bei der Protestbewegung in der Ostukraine die zivilen Kräfte komplett ausgeblendet. (vgl. hier)
Doch was will diese Bewegung eigentlich? Die Maidan-Bewegung war zwar auch uneinheitlich, aber immerhin darin vereint, dass Janukowitsch abgesetzt werden sollte. Umfragen zeigen, dass die Bevölkerung entgegen der Behauptung vieler deutschen Medien, gar keine Loslösung von der Ukraine wollen: Zwei Drittel wollen in der Ukraine bleiben – nur unter anderen Bedingungen, beispielsweise, dass die Regionen mehr Autonomie bekommen. (vgl. hier) Das wird jedoch von den deutschen Medien komplett ausgeblendet. Die gesamte Bewegung wird nur als militant und durch Russland gesteuert dargestellt.

Russische Beteiligung an den Protesten?
Dass Russland an den Protesten in der Ostukraine beteiligt ist, die Proteste sogar orchestriert, wird vom Westen gebetsmühlenhaft behauptet. Diese Unterstellung des Westens hat Russland allerdings durch die plötzliche Aufnahme der Krim selbst genährt. Dass Russland mit der Krimregierung zusammengearbeitet hat bei der Erstellung des Referendums und bei der „Sicherung“ der öffentlichen Ordnung, gibt mittlerweile auch Präsident Putin zu. (vgl. hier) Ähnliches passiert nun auch in der Ostukraine: Rathäuser werden besetzt und ein Referendum wird gefordert. Da liegt die Interpretation nahe, dass dort das Gleiche passiert.
Klare Beweise für die These der russischen Orchestrierung des ukrainischen Protests habe ich bisher noch keine gefunden. Mehrere Beweise entpuppten sich in letzter Zeit als Fake. Vor dem Hintergrund der langen Geschichte der USA im Fälschen von Beweisen (z.B. Irakkrieg I, Irakkrieg II, Kosovokrieg (deutsche Fälschungen)), erscheint die aktuelle Suche nach Beweisen und deren regelmäßige Entlarvung umso fragwürdiger.
Ein Trickbetrüger hatte beispielsweise ein Video gedreht, in dem ein russischer Kommandant ukrainischen Polizisten etwas befiehlt. Das Video wurde auch von ARD und ZDF gezeigt. (vgl. hier) Ein weiterer Beweis entpuppte sich ebenfalls als falsch: Auf mehreren Fotos wurde demnach ein bärtiger Mann identifiziert, der aktuell in der Ukraine, vormals aber im Georgien-Konflikt und davor in Russland militärisch aktiv gewesen sein soll. Die ukrainische Regierung hatte die angeblichen Beweisfotos den USA übergeben, die diese wiederum der New York Times zugespielt hatten. Die New York Times veröffentlichte sie auf ihrer Frontseite. (vgl. hier) Die Fotos aus Russland stammen, wie nun herauskam, nicht aus Russland, sondern wurden aktuell in der Ostukraine aufgenommen. (vgl. hier) Der Mann wurde sogar interviewt. Der Artikel im Time-Magazin deutet ganz klar darauf hin, dass es keine russische Unterstützung der Proteste in der Ostukraine gibt. Allerdings wünschen sich die Besetzer das Eingreifen Moskaus.
Darauf ist auch ihre Besetzungs- und Provokationstaktik ausgelegt. Ganz ähnlich der Maidan-Bewegung wollen die ostukrainischen Besetzer die (jetzt neue) Regierung zu einem harten Durchgreifen zwingen und rechnen, wenn die Regierung militärisch eingreift, mit internationaler Unterstützung – diesmal allerdings von russischer Seite. Die EU griff in Kiew diplomatisch ein und half so, Janukowitsch zu stürzen. Russland soll nun militärisch zum Schutz der eigenen russischen Bevölkerung intervenieren. Bisher geht diese Kalkulation sehr gut auf. Die neue Regierung hat ein militärisches Vorgehen gegen die Besetzer beschlossen und Russland hat angekündigt, dass es notfalls seine Bürger verteidigen werde.

Dass der Konflikt politisch gelöst werden könnte, schien vor Ostern sehr unwahrscheinlich. Russland und die USA hatten in der Frage, wie die Krise sich lösen ließe, ein argumentatives Patt erreicht. Russland sagt: Die USA soll doch bitteschön mehr Einfluss auf „ihre“ Regierung in Kiew nehmen, dass sie die Rechte der (russischen) Bürger im Osten stärker berücksichtigt, so dass diese dann weniger protestieren und damit ein Zerfall der Ukraine verhindert wird. Die USA sagen: Russland solle doch bitteschön mehr Einfluss auf „seine“ separatistischen Unterstützer nehmen, dass diese sich entwaffnen lassen und sich in die Gesamt-Ukraine eingliedern. Dieses argumentative Patt wurde zum Erstaunen der deutschen Medien kurz vor Ostern in Genf überwunden. Die EU, Russland, die USA und die Ukraine einigten sich darauf, dass die Separatisten abgerüstet werden müssten, die Gebäude geräumt und eine Verfassung gemeinsam mit allen Regionen ausgehandelt werden müsse. (vgl. hier)
Unklar blieb nur, wer die Bewegungen entwaffnen soll. Nach diesem Osterschock für die deutschen Medien – Russland konnte nicht mehr als böse dargestellt werden – wurden doch mittlerweile wieder die passenden Argumentationsmuster gefunden: Russland hält sich nicht an die Genfer Vereinbarungen und übt seinen (unterstellten) Einfluss auf die Separatisten nicht aus. Russland dagegen wirft der ukrainischen Regierung (und damit den Europäern und Amerikanern) vor, durch das überharte Vorgehen gegen die Separatisten aber auch gegen normale russische Bürger, einen Krieg gegen das eigene Volk zu führen. Das klingt so, als wolle es rhetorisch vorbereiten, „aus humanitären Gründen“ in der Ostukraine einzumarschieren oder zumindest eine „Flugverbotszone“ einzurichten. Das wären allerdings gefährliche Retourkutschen auf vergangene amerikanische und europäische Kriegsvorwände.

Das große Säbelrasseln der EU und der USA
Die EU und die USA werden allerdings keine Soldaten in die Ukraine schicken, um „ihr“ Regime zu verteidigen. Die geopolitische Bedeutung der Ukraine ist hoch (siehe unten), aber gerade innenpolitisch kann Obama es den US-Bürgern nicht mehr vermitteln, wieder in einen neuen Krieg zu ziehen. Das gleiche gilt für die meisten EU-Staaten, die auch ihre Einflusszone gar nicht dort sehen. Hier spielen auch starke wirtschaftliche und energietechnische Abhängigkeiten von Russland eine Rolle.
Der Leiter des Politikressorts der ZEIT, Bernd Ulrich, brachte den Hintergrund der europäischen Position in einem langen (etwas weinerlichen und fast selbstkritischen) Leitartikel über die Frage, wieso Medien und Politik so weit weg von der Bevölkerungsmeinung argumentieren, so auf den Punkt: Gerade weil sich der Westen (moralisch) delegitimiert hat in seinen letzten Kriegen und weil die Bevölkerung kriegsmüde ist, muss der Westen nun lautstark mit den Ketten rasseln und mit glaubhaften Sanktionen drohen – ein anderes Mittel steht einfach nicht mehr zur Wahl. Und bei diesem Rasseln solle die Bevölkerung doch bitteschön mitziehen!

Die geopolitische Bedeutung der Ukraine
Um sich die geopolitische Bedeutung der Ukraine zu veranschaulichen, kann man sich zunächst dieses Bild anschauen. Man sieht deutlich, dass die Ukraine ein Transitland für russisches Gas ist. Die Ukraine hat zudem viele wertvolle Bodenschätze und die fruchtbarsten Böden der Welt, was die Ukraine 2012 zum fünftgrößten Produzenten von Weizen machte. Die wesentliche Bedeutung der Ukraine entsteht aber durch ihren Transitstatus. Russland liefert 80 Prozent seines Erdgases für Europa durch die Ukraine. Das macht die Ukraine für Russland und auch für die EU ökonomisch extrem wichtig.
Russland hat ein strategisches Interesse an guten Beziehungen zur EU. Es will eigentlich in die europäische Sicherheitsarchitektur integriert werden und möglichst gute Geschäftsbeziehungen zu den EU-Ländern unterhalten, da diese einen enormen Absatzmarkt (besonders für das russische Gas) darstellen. Russland will wieder eine Weltmacht werden und spielt dafür die Karte seiner enormen Rohstoffvorkommen aus.
Die EU hat auch ein strategisches Interesse an guten Beziehungen zu Russland, da sie von dessen Gaslieferungen abhängig ist. Die EU muss sich jedoch auf eine zunehmend multilaterale Welt mit den neuen Big Playern China und Russland einstellen. Die EU-Erweiterungsrunden sollen in einer sich auf diese Weise neu aufteilenden Welt verhindern, dass die einzelnen EU-Staaten wieder zu Zwergen werden. Es soll ein möglichst großer Binnenmarkt entstehen, der auch alle Ostblock-Staaten einschließt – was unproblematisch wäre, wenn Russland in dieser Strategie berücksichtigt werden würde.
Dass Russland in dieser Strategie kaum vorkommt, liegt im Wesentlichen an den USA. Die USA wollen verhindern, dass Russland wieder ein relevanter Akteur auf der politischen Weltbühne wird. Daher ist ihnen die energiepolitische Abhängigkeit der EU von Russland ein Dorn im Auge. Auf diese Weise lässt sich Russland nicht isolieren und schwächen, sondern kann seine Stellung aufgrund der entstehenden Abhängigkeiten noch ausbauen. Um die Abhängigkeit der EU zu lösen, haben die USA gemeinsam mit der EU ein Pipeline-Projekt geplant: Das Nabucco-Projekt. Diese Pipeline sollte ihr Gas nicht aus den auf der Feindesliste stehenden Staaten Russland oder Iran, sondern aus dem kaspischen Meer beziehen und gleichzeitig die unsicheren Staaten Ukraine und Weißrussland umgehen. Mittlerweile ist dieses Projekt gescheitert, da das Gas aus dem kaspischen Meer durch eine andere Pipeline (TAP), betrieben von einem europäischen Konsortium, geleitet werden soll. Die Europäer versuchen offensichtlich von sich aus bereits eine größere Unabhängigkeit von Russland zu erreichen. Nach der orangenen Revolution und unter dem prowestlichen Präsidenten Juschtschenko wurde von der Ukraine der sogenannte Gas-Streit angezettelt, um Europa von der Unzuverlässigkeit Russlands zu überzeugen. (vgl. hier) Die Ukraine war und ist für die USA der Hebel um Streit zwischen der EU und Russland zu säen. Um den wechselnden Machtkonstellationen in der Ukraine aus dem Weg zu gehen, hat daher auch Russland alternative Pipelines geplant bzw. gebaut: Die bereits fertige Nordstream-Pipeline, die von russischem Territorium über die Ostsee direkt nach Deutschland führt und prominent von Ex-Bundeskanzler Schröder vermarktet wurde, und die noch geplante Southstream-Pipeline, die von russischem Territorium über das schwarze Meer direkt nach Bulgarien geht.

Neben diesen Fragen der Energieabhängigkeit geht es den USA aber in der Ukraine-Frage auch um die Einkreisung der neu entstehenden Weltmächte Russland und China. Die Idee ist, dass ein Land, das wie durch einen Gürtel von westlich-orientierten Staaten eingeschnürt ist, nicht weiter wachsen kann (vergleichbar mit der Fesselung des Riesen Gullivers durch die Liliputaner in Gullivers Reisen). Dafür nutzen die USA im Falle Russlands besonders die NATO. (Bei China versuchen die USA es über Handelsabkommen mit den Nachbarländern Chinas. (vgl. hier)) Nach dem Ende des kalten Krieges hätte die NATO ebenso wie der Warschauer Pakt aufgelöst werden können. Stattdessen suchte die NATO in den neunziger Jahren krampfhaft nach einer neuen Aufgabe und fand sie zunächst in der Rolle des Weltpolizisten im Kosovokrieg.
Gleichzeitig dehnte sich die NATO aber immer weiter aus. Insbesondere die ehemaligen russischen Satellitenstaaten und die baltischen Staaten schlossen sich gerne der NATO an, da sie auf diese Weise sicher sein konnten, nicht wieder eines Tages von Russland einverleibt zu werden. Im Gegenzug boten sie der NATO die Chance, Militärbasen mit Truppenkontingenten und Raketen auf ihrem Territorium zu aufzubauen. Aus russischer Sicht stellen diese Militärbasen in direkter Nachbarschaft eine akute Bedrohung dar, wie auch der von George W. Bush geplante Raketenabwehrschirm in Polen und Tschechien.
Russland war nach dem Ende des Kalten Krieges (mündlich) zugesichert worden, dass die NATO sich nicht bis zu dessen Territorium ausdehnen würde. (vgl. hier) Dennoch gab es drei Erweiterungswellen der NATO, so dass im Jahr 2008 sogar die Ukraine und Georgien in die NATO aufgenommen werden sollten. Lediglich der von Georgien begonnene Krieg mit Russland um die Republik Südossetien führte dazu, dass den europäischen NATO-Mitgliedsländern bewusst wurde, dass bei einem Beitritt Georgiens in einem ähnlichen Falle ein möglicher Krieg mit Russland drohen könnte.(vgl. hier) Daher wurde auf den Beitritt Georgiens und der Ukraine zunächst verzichtet. In der Ukraine löste sich das Dilemma des NATO-Beitritts nach der Wahl des russlandfreundlichen Janukowitsch im Jahr 2010 auf. Er erklärte, dass es keinen Beitritt geben werde. Auch die neue Regierung in Kiew erklärte dies. Allerdings ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis dieses Thema – durch die USA forciert – auf dem Tisch des nächsten Präsidenten landen wird.

Wo bleibt die eigenständige Position der EU?
So sehen momentan die Fronten und die geopolitischen Hintergründe aus – soweit ich sie aus meinen Recherchen überblicke. Wirklich fraglich ist nur, warum sich die EU so sehr von den USA gegen Russland ausspielen lässt. Ist die transatlantische Freundschaft noch immer so stark? Auch nachdem Deutschland in der NSA-Affäre so deutlich vorgeführt wurde? Wieso vertritt die EU und auch Deutschland keine eigenständige Position? Es ist ganz offensichtlich nicht im Interesse Deutschland oder der EU, Russland zum Feind zu machen – dafür sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu eng. Und mit der Behauptung, dass es um die Durchsetzung der Menschenrechte und um die Verbreitung des freiheitlichen demokratischen Gedankens ginge, kann hier wohl niemand argumentieren: Zum einen angesichts der langen Liste der Vergehen des Westens, insbesondere der USA (Abu Graib, Guantanamo, Drohnenkriege, NSA-Affäre), und zum anderen angesichts der positiven Geschäftsbeziehungen mit Ländern, in denen eben diese Menschenrechte mit Füßen getreten werden (Saudi-Arabien, China).

Ausblick
Unabhängig von den Entwicklungen im Osten der Ukraine birgt auch noch die finanzielle Lage der Ukraine enormen Sprengstoff für die Zukunft. Da Russland der Ukraine nach dem Machtwechsel keine weiteren Kredite mehr geben will, müssen die EU und die USA einspringen. Dafür musste die neue Regierung mit dem internationalen Währungsfond verhandeln. Der IWF verspricht Kredite in Höhe von 17 Milliarden Euro, allerdings nur, so ist es beim IWF üblich, im Gegenzug für struktuelle Reformen. (vgl. hier) Bereits zwei Kredite des IWF für die Ukraine wurden eingefroren, weil die Reformen nicht umgesetzt worden waren. Diese Reformen betreffen insbesondere die Energiepreise für die Bevölkerung, die in der Ukraine durch staatliche Subventionierungen absichtlich niedrig gehalten werden. Dass heißt die Energiepreise werden steigen müssen, um die Kredite des IWF zu erhalten. Das könnte in der angespannten Lage der Ukraine leicht zu sozialen Unruhen führen. Um diese zu verhindern, müssten Ausgleichsprogramme aufgelegt werden, für die allerdings auch das Geld fehlt. Es müssten also weitere Kredite beantragt werden. Hinzu kommt, dass Russland die Rabatte für die Gaslieferungen streicht, die der russlandfreundlichen Regierung gewährt worden waren. Dass heißt die Energiepreise steigen nicht nur durch den Abbau von Subventionen für die Bevölkerung, sondern auch durch den höheren Preis, der an Russland zu zahlen ist. Damit wird auch klar, wohin die Kredite des IWF und der EU fließen werden: Zur Begleichung der ukrainischen Gas-Schulden nach Russland. Das wird die Kreditbereitschaft der EU-Staaten und des IWF in der aktuellen konfrontativen Situation sicherlich nicht erhöhen. Es sind also düstere Aussichten für die Ukraine.