Es ist erstaunlich, wie sehr Serien in den letzten Jahren zu Identifikationsstiftern, ja zu Identitätsmarkern geworden sind. So wie man sich früher nur über Musik, die man hörte, ausgetauscht hat, spricht man heute über die Serien, die man schaut: „Ich habe die neue Staffel von Game of Thrones schon komplett gesehen.“ oder „Hast du schon die neuen Folgen von Sherlock gesehen?“

Dadurch dass das Fernsehen lange Zeit nur synchron konsumierbar war, war die Aktualität der Fernsehinhalte in Gesprächen von großer Bedeutung: „Ich hab gestern die neue Folge von Akte X gesehen!“ oder „Hast du gestern den Tatort gesehen?“ Man zeigte, dass man Up-to-Date war, indem man zu einem fest bestimmten Zeitpunkt an einem fest bestimmten Ort ein fest bestimmtes Ritual ausführte: Den Fernseher anzuschalten. Das Leben vieler Jugendlicher war durch die Synchronität des Fernsehens insgeheim gleichgeschaltet. Die Möglichkeiten, die Fernsehinhalte auf Videokassetten aufzuzeichnen, waren im Vergleich zu heute nur rudimentär ausgebildet und angesichts des Aktualitäts-Wertes, den das Gestern-Gesehene hatte, auch weitgehend nutzlos.

Die Auflösung des Synchronitätszwangs des Fernsehens durch das Internet und die ständige Verfügbarkeit der Serien durch den DVD- bzw. Bluray-Verkauf haben dieses Identifikationsmuster fast vollkommen beendet und ein neues Muster erzeugt: Die Individualisierung durch die Serien, die man schaut. Das Fernsehen versucht zwar zurückzuschlagen, indem es verstärkt Events schafft, die Einmaligkeit suggerieren und damit nur durch das Live-Dabei-Sein einen Wert erhalten: Die Liveübertragung von sportlichen Großereignissen oder von Festakten wie Hochzeiten oder Gedenkfeiern. Wenn man am nächsten Tag sportlich, politisch oder promitechnisch mitreden will, so das neue Muster des Fernsehens, muss man weiterhin synchron dabei sein.

Gleichzeitig wurde aber auch eingesehen, dass die frühere Deutungshoheit über die Identifikation mit Serien und Filmen verloren gegangen ist, da diese nun auch weitgehend in Mediatheken frei verfügbar sind. Das letzte Alleinstellungs- und damit auch Aktualitätsmerkmal, das das Fernsehen in Bezug auf Serien und Filme noch hat, ist die Erstausstrahlung einer Serie in Deutsch. Damit kann das Fernsehen zumindest die Zielgruppe halten, für die das Ansehen der Originalversion kein Wert an sich ist. An dieser Stelle muss ich allerdings anmerken, dass diese Ausführungen stark auf die jüngere Generation bezogen sind. Für meine Eltern ist es immer noch eine Unterhaltung wert, sich über das Fernsehprogramm von gestern auszutauschen – alles natürlich versehen mit dem Hinweis, dass da ja sowieso nichts Gescheites komme.

Wie aber kommt es in der jüngeren Generation zu dieser Identifikation mit den gesehenen Serien? Wie kommt es zu einem Phänomen wie Binge-Watching, bei dem alle Folgen einer Serie auf einmal geschaut werden? Warum schauen so viele Leute eigentlich Serien?

Die Antworten auf diese Fragen sind in meinen Augen eng verknüpft mit der Frage, warum Menschen überhaupt Fernsehen schauen. Die einfachste Erklärung ist die folgende: Nach einem achtstündigen Arbeitstag wollen sie vor dem Fernseher nur noch entspannen – sie wollen abschalten durch anschalten. Die Bedürfnisse der Menschen, um innerlich abschalten zu können, sind allerdings sehr verschieden: Einige wollen mitfiebern, einige mitlachen und einige mitleiden. Das Fernsehen bietet für diese Formen des individuellen Abschaltens die verschiedenen Sender. Man individuiert sich beim Fernsehen durch die Auswahl eines Senders aus einem festgefügten, synchronen Programm: Es gibt nur diese eine Auswahl an diesem einen Abend.

Durch die Verfügbarkeit von Serien im Internet oder auf DVDs oder Blurays wird diese Auswahl nun enorm erweitert: Im Vergleich zu den 30 Fernsehsendern mit ihrem synchron begrenzten Angebot steht nun ein schier endloses Angebot an Filmen und Serien zur Verfügung. Man könnte einen Fassbinder-Film schauen, eine BBC-Dokumentation über den Kapitalismus oder eine Folge von „How I met your mother“. Man kann sich durch die Auswahl aus diesem riesigen Spektrum individuieren. Dennoch gibt es hier einen aktuellen Kanon, was die meisten Menschen schauen. Und das sind meist Serien.

Auf Filme muss man sich immer wieder neu einlassen, sie können unterschiedlich gut sein. Im Gegensatz dazu schaffen Serien eine eigene Welt, die garantiert, dass man innerlich abschalten kann. Sie bieten einen geborgenen Kosmos, in dem man sich auskennt, der gleichzeitig aber nicht statisch ist, sondern mit jeder neuen Episode (den Gesetzen dieses festen Kosmos‘ folgend) erweitert werden kann.

Die meisten Serien bieten natürlich eine extreme Übersteigerung des Alltags: Die Figuren erleben in ihrer fiktiven Welt wesentlich dramatischere und spannendere und lustigere Geschichten als sie in der realen Welt der meisten Menschen möglich sind. Insofern sind die Figuren Projektionsfläche für die Sehnsüchte nach einem aufregenderen Leben. Gleichzeitig vermitteln die Serienfiguren durch ihren Umgang mit ihrem dramatischeren und spannenderen und lustigeren Leben den Zuschauern aber auch eine Handlungssicherheit, die es in deren realen Leben gar nicht geben kann. Die Figuren erleben zwar Katastrophen und Unglücke und Absurditäten, aber da die Serie weitergeht, ja weitergehen muss, gibt es immer zugleich auch für die Zuschauer die Sicherheit, dass die Figuren mit allen Hindernissen irgendwie fertig werden. In diesem Sinne bieten Serien die Möglichkeit, innerlich abzuschalten und sich in einen wohlbekannten Kosmos fallen zu lassen, in dem die Figuren ihre viel spannenderen und dramatischeren und lustigeren Leben allen Widerständen zum Trotz meistern.

Während frühere Generationen also Ihre allabendliche Sicherheit, innerlich abschalten zu können, durch das Anschalten des Fernsehers gewannen und aus dieser Quelle auch ihr gesprächliches Individuierungspotential der kommenden Tage schöpften, findet die neue Generation die Möglichkeit ihrer Individuierung in der Auswahl ihrer Serien aus dem schier unbegrenzten Kosmos des Anschaubaren und gewinnt ihre Sicherheit durch den geborgenen Kosmos der ausgewählten Serie.