Was früher auf das hohe Alter beschränkt war, hat sich mittlerweile bis in die früheste Kindheit verlagert: Der Diskurs um die richtige Ernährung und um die eigene Gesundheit. Ein Beispiel: Neulich erzählte mir ein Freund, dass er sich seit einer Woche endlich eines seiner Lieblingsgerichte machen wollte: Spaghetti mit Tomatensoße und angebratenen Salamiwürfeln. Darauf erklärte ihm eine Freundin: „Gebratene Salamiwürfel erzeugen aber Krebs!“

Zu jedem Lebensmittel gibt es mittlerweile Wissen, ob und wie es gegessen werden sollte, womit es kombiniert werden darf und was es wann bewirkt. Essen ist zu einer Form der permanenten Selbstkontrolle und -optimierung geworden. Man fragt sich: Ist das, was ich gerade esse gesund, sollte ich nicht lieber etwas noch gesünderes essen?

Doch weshalb macht man das eigentlich? Vielleicht ist das ja nur die konsequente Reaktion auf die Zustände in der Lebensmittelindustrie: Wenn dort um Geld zu sparen und mehr Gewinn zu machen, immer mehr unnatürliche Zusatzstoffe zugesetzt werden, wenn Fleisch immer schneller und tierverachtender erzeugt wird, wenn schnellwachsendes, inhaltsleeres Obst und Gemüse gezüchtet wird, wenn immer mehr abhängig machender Zucker in die Lebensmittel kommt. Dieses latent vorhandene Wissen über Lebensmittelkonzerne befördert die Skepsis gegenüber Lebensmitteln.

Zusätzlich wird sie auch noch wissenschaftlich „unterfüttert“: Das Ernährunsverhalten ist in den letzten Jahrzehnten in den Fokus von aufstrebenden, studienhungrigen Wissenschaftszweigen geraten. Die Medizin wollte mit der Evidenzbasierten Medizin nicht mehr nur Anwendungswissenschaft nach dem unwissenschaftlichen Motto „Wer heilt, hat recht“ sein; die Psychologie wollte sich mit der durch Studien kontrollierbaren Verhaltenstherapie von ihrer bisherigen Ausrichtung auf Freud und dessen eher künstlerische und unüberprüfbare Tiefenpsychologie lösen; die Ernährungswissenschaft wurde in den 60er Jahren erst entwickelt und musste sich dementsprechend erst einmal empirisch beweisen. Studien zeigen daher, welche Lebensmittel Krebs erzeugen oder fett machen, welches Essverhalten gesund und welches gestört ist, wann ich was essen muss, damit mein Körper es abbauen kann.

Doch weshalb lassen sich Menschen eigentlich auf diese Risiko- und Wissenschaftsdiskurse über ihr Essen ein und übernehmen sie in Form einer permanenten Essens-Selbstkontrolle in ihren Alltag? Offensichtlich stehen dahinter (mittlerweile) auch wirtschaftliche Interessen einer ganzen Industrie, die versucht, die Essens-Verunsicherung der Menschen mit Bio-Produkten zu lindern. Aber welches Menschenbild steckt eigentlich dahinter? Wofür kontrolliert man eigentlich sein Essen?

Es geht um die eigene Gesundheit in der Zukunft, nicht in der Gegenwart. Wenn ich heute etwas esse, was Krebs erzeugen könnte, werde ich irgendwann an Krebs sterben. Ich will aber in der Zukunft auch gesund sein und mein Leben genießen können! Deshalb muss ich jetzt schon vorsorgen und mir Gedanken darüber machen, wie ich möglichen Krankheiten der Zukunft vorbeugen kann. Es geht um die Kontrollierbarkeit der eigentlich unkontrollierbaren Zukunft und damit letzten Endes auch um die Angst vor dem eigenen Tod. Wenn ich mich nur richtig verhalte, werde ich nicht früh sterben, sondern lange leben.

Aber was wird dabei aus der Gegenwart? Was ist das für ein abgespecktes Jetzt-Leben, ein „Leben light“, das nur auf den Lebenserhalt in der Zukunft ausgerichtet ist? Ist das gute Leben nur ein Leben in der Zukunft? Und: Wird man denn in der Zukunft sich weniger selbst kontrollieren, seine Ernährung weniger optimieren? Vielleicht ist das der größte Trugschluss an dieser Denkweise: Dass dieses ängstliche, zukunftsbezogene Verhalten im Alter geringer werden würde – es wird nur noch mehr. Mit der zunehmenden Angst vor Krankheiten steigen auch die Hoffnungen auf die prophylaktische Wirkung des richtigen Verhaltens. Man spart für etwas, was man eh nicht genießen können wird.

Für puren Hedonismus will ich damit nicht plädieren, sondern nur für ein Sich-nicht-verrückt-machen-Lassen. Es gibt sicherlich auch nachweisbare Zusammenhänge, beispielsweise zwischen dem Essen von Zucker und der Entstehung von Diabetes. Nur ist all dieses Wissen wenig individualisiert, es sind generelle Zusammenhänge. Jeder Mensch sollte ein Sensorium für seinen eigenen Körper entwickeln, sollte lernen, wie welches Essen bei ihm wirkt – und zwar im Jetzt, nicht in einer fernen unbestimmbaren Zukunft.

Was bringt es dir, immer das Richtige gegessen zu haben, wenn du dann mit 50 vom Auto überfahren wirst? Vielleicht solltest du dann sicherheitshalber auch nicht mehr rausgehen…