Wenn man ein Geheimnis hat, muss man lügen. Es geht nicht anders. Es werden einfache Nachfragen zu schweren Aufgaben. Diese Einsicht klingt simpel. Sie ist es aber nicht, wenn man immer noch den Anspruch der “Unendlichen Geschichte” in sich hat, Fantasien nicht weiter zu zerstören. Jedes Geheimnis produziert mit jedem Tag neue Lügen, bis zur finalen Lüge – der letzten Karte auf dem Kartenhaus.
Noch ein kurzes Beispiel aus meinem liebsten Buch “Niels Lyhne”. Diese Lügen haben zwar nichts mit mir zu tun, zeigen jedoch sehr stark die Veränderung durch Geheimnisse.
Die Hauptfigur Niels verliebt sich in Fennimore, die Frau seines besten Freundes Erik. Die Gefühle sind beidseitig und sehr groß. Sie müssen aber geheimgehalten werden und Lügen und Ausreden müssen erfunden werden.
“Dass Fennimore in dieser Hinsicht so erfinderisch war, ließ die erste Wolke am Himmel erscheinen. Es war anfangs so gut wie nichts, nur ein flockenleichter, vorüberjagender Zweifel; Niels fragte sich, ob seine Liebe nicht edler sei als die, die er liebte. Aber er war nicht klar dieser Gedanke, es war nur eine unklare Ahnung, die in diese Richtung wies, ein undeutliches Verlangen in seinem Herzen, das sich nach dieser Seite neigte.
Aber es kam wieder und hatte mehr im Gefolge, zuerst ebenfalls vage und unbestimmt, dann mit jedemmal eindringlicher. Und es war erstaunlich, mit welch reißender Schnelligkeit es zu untergraben, zu erniedrigen und Glanz zu rauben vermochte. Ihre Liebe wurde nicht geringer, im Gegenteil in dem Grade, wie sie sank wurde sie leidenschaftlicher und glühender, aber dieses Händedrücken, verstohlen unter Decken, diese Küsse auf Fluren und hinter Türen, diese langen Blicke unmittelbar unter den Augen des Betrogenen, das raubte ihr den ganzen großen Stil. Das Glück stand nicht mehr still über ihren Häuptern, sie mussten sein Lächeln und sein Licht erhaschen, wo sie konnten, und die List und die Schlauheit waren nicht mehr traurige Notwendigkeiten, sondern vergnügliche Triumphe, die Falschheit wurde ihr Element und machte sie so erbärmlich und so klein. Da gab es auch herabwürdigende Geheimnisse, die sie früher mit Trauer erfüllt hatten, einen jeden für sich, in dem Glauben der andere sei unwissend, die mussten sie nun teilen, denn Erik war nicht scheu zurückhaltend, und so konnte ihm oft einfallen, seine Frau in Niels’ Gegenwart zu liebkosen, sie zu küssen, sie auf seinen Schoß zu ziehen und zu umarmen und Fennimore wagte dies nicht abzuweisen oder besaß nicht – wie früher – Würde genug, diese Liebkosungen abzuwehren; das Bewusstsein ihrer Schuld machte sie unsicher und ängstlich.
So sank und sank das hohe Schloss der Liebe, das Schloss von dessen Zinnen, sie so stolz über die Welt hinweggeschaut und in dem sie sich so stark und so groß gefühlt hatten.
Aber sie waren froh inmitten seiner Ruinen. […]
Der Zug ewigkeitsbetonter Melancholie, der ihrer Liebe das Gepräge gegeben hatte, war ausgelöscht; eitel Lächeln und Scherz war ihnen jetzt eigen und über ihnen lag eine solch fiebernde Hast, eine Gier nach den dahineilenden Sekunden des Glücks, als müssten sie sich mit ihrer Liebe beeilen, als hätten sie nicht das ganze Leben noch vor sich.”
(”Niels Lyhne” von Jens Peter Jacobsen)